Antisemitismus im Netz: Osama bin Laden, der Fast-TikTok-Star (2024)

Angeblich feiern junge Menschen auf TikTok gerade ausgerechnet einen Brief von Osama bin Laden. Doch ein genauer Blick zeigt: Es ist nicht so schlimm wie gedacht.

Von Titus Blome

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Es gibt Sätze, von denen man nie dachte,dass man sie einmal schreiben würde. Hier kommt so einer: Osama bin Laden,ehemaliger Gründer und Anführer der Terrorgruppe Al-Kaida und Kopf hinter denAnschlägen vom 11. September 2001, ist jetzt scheinbar TikTok-Star.

Im Jahr 2002 veröffentlichte Osama bin Laden seinen Letter to America. Westliche Regierungen hätten muslimischeLänder besetzt und ausgebeutet, schreibt er darin, weil sie sich "den Judenergeben" hätten, die die "Politik, Medien und Wirtschaft kontrollieren". Dieamerikanischen Bürger trügen Mitschuld und hätten leiden müssen, wegen "all derVerbrechen, die Amerikaner und Juden" begangen hätten. Es ist also ziemlichgenau das, was man von Osama bin Laden erwartet: ein antisemitisches Stück Terrorpropaganda.

So ist es umso überraschender, dass jungeUS-TikToker derzeit in der App Videos hochladen, in denen sie davon berichten, wieebendieser Brief ihnen die Augen geöffnet habe. Eine junge Frau starrtentgeistert ins Leere, die Überschrift: "Ich überdenke alles, was ich je überdieses Land gelernt habe." Eine andere scheint am Rande desNervenzusammenbruchs: "Wie ich seinen Brief lese, wissend, dass er recht hatte." Es sind ekelerregende Verständnisbekundungen für einen Massenmörder undsein judenfeindliches Gedankengut.

Doch versucht man die Bedeutung dieserVideos abzuschätzen, wird es komplizierter. In vielen Medien ist von einem Trend die Rede, es sei ein "TikTok-Hit" oder dass der Brief dort viral gegangen sei. Das scheint ziemlich übertrieben,stattdessen passiert hier etwas, das sich häufig im Internet beobachten lässt:Kontext geht verloren. Eine kurze Rekonstruktion.

Die Google Trends, in denen man diePopularität von Google-Suchbegriffen nachverfolgen kann, verzeichnen bei den Suchanfragen für "Letter to America" am 14. und 15. November einen leichtenAnstieg, der jedoch rasch wieder abflaute. Eines der ersten Suchergebnisse fürdiese Anfrage verweist auf The Guardian, die den Brief seit 2002 auf ihrerWebsite veröffentlicht hatten –zusammen mit einem anderen Artikel, der das Schreiben kritisch einordneteund auch Reaktionen verschiedener Länder sammelte. Wohl vom Anstieg der Klicks erschrocken,entfernte die Redaktion den Brief von ihrer Webseite, ein eher ungewöhnlichesVorgehen. Stattdessen steht da nun, dass der Text "ohne den notwendigen Kontext" in den sozialen Medien geteilt worden sei,weswegen man ihn entfernt habe.

Erst daraufhin nehmen die Suchanfragenstark zu. Das Interesse der Menschen stieg an, weil sie dachten, da gebe esetwas, das sie nicht wissen sollen –der sogenannte Streisand-Effekt. YasharAli, den die LA Times als "halbinvestigativer Journalist, halb Klatschkolumnist" umschreibt, postete eineZusammenstellung aus gerade einmal acht solcher Videos auf seinemTwitter-/X-Account, dem über 700.000 Menschen folgen. Sein Post ging viral undzementierte unter einigen Journalisten, die diese Plattform noch immer gerne nutzen,endgültig die Idee eines Trends auf TikTok, wo die Gen Z angeblich in großenMengen Osama bin Laden verehrt. Ali versicherte im Post, dass über "die letzten24 h Tausende TikTok (mindestens)" gepostet worden seien, die genau das täten.

Diese Tausenden Videos existierten wohlnie. TikTok spricht ineiner Stellungnahme stattdessen von gerade einmal 274 Clips, bevor dieBerichterstattung anfing. Inzwischen hat die Plattform angefangen, vielesbezüglich des Briefes vehement zu löschen, doch die Washington Post sprichtvon gerade einmal zwei Millionen Aufrufen für #lettertoamerica,bevor die zusätzliche Aufmerksamkeit durch Tweets und Medien weitere 15 MillionenAufrufe produzierte. Zum Vergleich: #skincare erreichte laut TikTok zuletzt 250 MillionenAufrufe in 24 Stunden. AmDonnerstag sperrte TikTok #lettertoamerica schließlich.

Es ist eine Fallstudie des Internets undder darin aufeinander treffenden medialen Ökosysteme. Das Internet ist eineDekontextualisierungsmaschine. Beim Übergang von der einen zur nächstenPlattform werden Informationen aus den ursprünglichen Begleitumständen herausgelöstund alleinstehend oder gar neu eingebettet präsentiert, wobei sich ihreBedeutung häufig vollständig verändert. Eines stimmt natürlich: Bei Videos, dieOsama bin Ladens antisemitische Begründungen für die Angriffe des 11.Septembers preisen, gibt es wenig, was dekontextualisiert werden kann. Dafürgibt es keine Rechtfertigung oder Entschuldigung.

Was jedoch rasch verloren ging, warenVergleichswerte. Auf TikTok hätte ein Blick auf die Like-Zahlen der Videosgereicht, um ihre niedrige Signifikanz und Reichweite richtig abzuschätzen. YasharAli hatte diese jedoch für seinen Post auf Twitter entfernt, was jeglichenMaßstab unmittelbar auslöschte. So blieb nur seine Versicherung, dass dieseacht Videos und ihre grauenhaften Aussagen nur Beispiele für "Tausende" seien,die Popularität sei riesig. Quelle? Vertrau mir. Das Medienecho gerät dabeizur selbst erfüllenden Prophezeiung, die Berichterstattung verleiht demPhänomen die Aufmerksamkeit, die sie ihm zuvor ungerechtfertigterweisezugeschrieben hat.

Wieder und wieder lässt sich diesesPhänomen betrachten. Regelmäßig wird vor gefährlichen Challenges auf TikTokgewarnt, wobei es ebendiese Warnungen sind, die ein Randphänomen überhaupt erstins Rampenlicht zerren. Es gab die angebliche "Slap a Teacher"-Challenge, die Momo-Panik und der fake "Skeleton Brunch"-Trend. Diese Dynamik ist so bekannt,dass der TikTok-Nutzer Sebastian Durfee vor einem Jahr eine Fake-Challenge erfand, bei der manPorzellanstaub schnupfen sollte.Posts über die gefährliche, obwohl nicht real existierende Challengeverbreiteten sich schnell auf anderen Plattformen und erzeugten mal wieder einePanik.

In diesem Fall ist es ernster.Antisemitismus ist ein real existierendes Problem und überall sind Juden undJüdinnen in Gefahr –nicht erst, jedoch besonders seit den Angriffen aufIsrael vom 7. Oktober. Genau deswegen sollte man jedoch ein Gefühl für denMaßstab bewahren. Osama bin Laden ist nicht über Nacht zum TikTok-Stargeworden. Bislang gibt es keine Hinweise darauf, dass die Gen Z stärker mit ihmsympathisiert als die Boomer oder Millennials, die sich an die Anschläge vom 11.September tatsächlich erinnern. Der Fall zeigt stattdessen, dass es auch nach rund15 Jahren Erfahrung mit Social Media immer noch vielen schwerfällt, dietatsächliche Relevanz von Themen einzuordnen, die dort verhandelt werden.

Antisemitismus im Netz: Osama bin Laden, der Fast-TikTok-Star (2024)

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